"Fehlbar und hinfällig, ein bischen pulsierendes Leben mit Beinen wie Pudding, mehr bin ich nicht. Um mich herum sind die großen Naturgewalten - kolossale Bedrohungen, Titanen der Zerstörung, empfindungslose Ungeheuer die sich weniger um mich sorgen als ich mich um die Sandkörner, die ich unter meinen Füßen zerdrücke."
Jack London, The cruise of the Snark
Dies ist der Bericht der Abenteuerreise mit unserer Segelyacht Pulpo auf dem Weg von Berlin um die polnische Insel Wollin durch die Ostsee. Die Pulpo, ein schwedisches Segelboot ist ziemlich alt und etwas überholungsbedürftig. Trotzdem war dies ein lohnender und sehr lehrreicher Trip - einfach lesen.
Logbuch der S/Y Pulpo, 19. Juli 2021 - Tag 12 Trzebiez - Stepnica - Lubcyna - letzter Tag „auf See“
Wir verlassen den Hafen von Trzebiez in nördlicher Richtung und fahren aus der Fahrrinne, um dann mit bis zu 6.6 Knoten bei achterlichem Wind, ein weiterer Rekord mit unserer Shipman zurück
Richtung Stepnica zu fahren, wo wir auf der Hinfahrt die längste Station hatten. Aus heiterem Himmel sozusagen, taucht plötzlich vor uns eine Möwe auf. Sie sitzt auf einem Felsen. Warum zu
Kuckuck sitzt dort eine Möwe auf einem Felsen, denke ich, die sollte da nicht sitzen. Das Problem ist natürlich nicht die Möwe, sondern der verdammte Felsen direkt vor uns. Wieder so ein Pudding-
Moment. Warum haben wir das nicht auf dem Navi gesehen? Dion sitzt am Steuer und ich gebe ihm
Befehl zum ausweichen.
Mit einem sehr mulmigen Gefühl rauschen wir an dem Felsen (es ist eher ein typischer Steinhaufen) vorbei. Zum Glück haben wir uns für die richtige Seite entschieden und erreichen die Fahrrinne ohne Zwischenfälle. Die Seichtigkeit des Haffs hätte nun kurz vor Ende der Segelreise nun fast noch einmal zugeschlagen, wir hatten mal wieder äußerst Glück und wurden wahrscheinlich von mehereren Schutzengeln backbord und steuerbords geleitet.
Wir tanken erstmal in Stepnica, machen noch einen Einkauf und schmausen im Hafenrestaurant. Nun, da wir alles schon kennen, will keine richtige Wiedersehensfreude aufkommen, es ist auch schon spät, wir müssen aufbrechen Richtung Stettin. Auf dem Weg dorthin wird uns klar, dass wir jetzt, nach 18h den Weg zum AZS nicht mehr vor dem Dunkeln schaffen. Auch unter voller
Besegelung machen wir bei schwachem Wind nicht mehr als 2.5-3.0 Knoten. Das bedeutet, dass wir uns die ganze Zeit fragen, ob es nicht besser wäre, den Motor zu starten und das Segeln sein zu
lassen.
Am nordöstlichen Ufer des Dammschen Sees, ca. 10 km von Stettin, gibt es noch die Marina Lubcyna, die wir anlaufen können. Eher wenig Tiefgang auf der Karte, aber uns bleibt eigentlich nichts übrig, als dort hinzusteuern, festzumachen oder notfalls irgendwo zu ankern. Auf der Oder zwischen Haff und Stettin gibt es keine Stege zum festmachen. So in etwa läuft unsere Diskussion ab, wir haben wenig Akku zur Handynavigation und fahren weiter in diese Ungewißheit.
Aber schließlich erreichen wir den Dammschen See bei wieder sehr malerischer Abendstimmung und Postkarten-Horizont und fahren nach 21h im Yachthafen von Lubcyna ein, wo wir auch bald einen
Platz finden. Das mit der Wassertiefe ist, von nahem betrachtet, auch kein Problem. Wir machen am Steg fest, genießen die Abendstimmung und unrernehmen noch einen kleinen Spaziergang zum
Traumstrand, wo es wie so oft auf der Reise durch Polen, viele Spiel- und Sportgeräte für die Kinder gibt. Zu Essen gibt es wie meistens nichts mehr im Hafen, wie meistens wird an Bord Spagetti Napoli gekocht.
Logbuch der S/Y Pulpo, 21. Juli 2021 - Tag 13 Lubcyna-Stettin
Der letzte Segeltag unserer Reise dauert kaum mehr als eine Stunde. Bei frischem Wind machen wir mit nur der Genua 5.5 Knoten und gleiten über den See, passieren wieder einige seichte Stellen an dessen südlichen Ufer und die unvermeidlichen Fischernetze. Allmählich stellt sich bei mir eine Hochstimmung ein, weil wir eine ziemlich lange, schöne Segeltour glorreich vollenden haben, mit
folgenden Stationen: Stettin-Stepnica-Ziegenort-Wapnica-Swinemünde-Dziwnow-Ziegenort-Lubcyna-Stettin. Eine ganz schöne Strecke für blutige Anfänger, ohne Haff- oder Seeerfahrung. Der
akademische Segelclub lädt ein zum Entspannen und Verwöhnen, für unseren Sohn Luis ist die Schiffsreise hier zu Ende, er besteigt den nächsten Zug nach Berlin.
Die Heimreise nach Berlin wird uns nicht am Stück gelingen, weil zwischendurch wieder Termine sind und wir die Zeit hier voll ausgekostet haben. So lautet unser Ziel am nächsten Tag erstmal
Schwedt/Oderberg. Zur Planung muss angemerkt werden, dass die Betreiber der Marina Oderberg natürlich viel netter sind als in Schwedt. Aber für die vier Übernachtungen ohne Mannschaft zahlen
wir in Schwedt nur 12€, in Oderberg 80€.
Logbuch der S/Y Pulpo, 22. Juli 2021 - Tag 14 Stettin (AZS) - Sladlo Dolne
Der Motor ist mal wieder der Killer. Nachdem wir mit dem Hafenmeister im AZS ziemlich entspannt den Mast gelegt haben, fahren wir gegen 10h die Oder hoch, Richtung deutsche Grenze. Leider, nach nur wenigen km passiert es, ach!… der Bolzen löst sich wieder aus der Wasserpumpe, der Wasserasammler schmort und qualmt vor sich hin und wir müssen ein deutsches Segelboot, das
uns nachkommt anhalten und bitten uns mitzunehmen, die diesmal so gar nicht begeistert sind von dieser Aktion. Sie schleppen uns nach Sladlo Dolne, einem Vorort von Stettin, zum Glück mit gutem Anschluss an das Netz des öffentlichen Nahverkehrs.
Nach 20 Minuten Busfahrt bin ich mit Dion, der nun ebenfalls die Heimfahrt antritt und der wieder ausgebauten Wasserpumpe am Hbf Stettin, wo wir einen Schnellbus nach Berlin-Alexanderplatz finden. Anna bleibt an Bord, sucht sich einen Stromspender für die Heißklebepistole und vollführt ein weiteres McGywer-Kunststück, indem sie den angekokelten Wassersammler abdichtet. Gegen Abend bin ich mit der reparierten Wasserpupe wieder zurückin Sladlo Dolne. Es fuhr kein Bus, aber ein Taxi, nur 8€, zum Glück sind wir in Polen. Damit endet auch die Odyssee durch polnische Bahnhöfe und Busse, die ich zu Zwecken der Bootreparatur unternehmen musste.
Abends sehen wir einen erstaunlich zutraulichen Biber am Steg. Das Essen schmeckt fantastisch, die Kinder sind wieder in Berlin, wir werden am nächsten Tag folgen.
Logbuch der S/Y Pulpo, 22. Juli 2021 - Tag 15 Sladlo Dolne - Schwedt
Am nächsten Morgen starten wir ziemlich früh in Richtung Schwedt und gleiten tuckernd durch teilweise sehr dichten wobei eine rotte Wildschweine an uns vorbeizieht. Bei der Abzweigung in
den Kanal landen wir auf einer Sandbank. Wie meistens haben wir großes Glück, es kommt gleich eine Bavaria um die Ecke und zieht uns raus. Genau im richtigen Moment.
Allerdings, die nächste Panne ist leider nicht weit... nach 4h Stunden Fahrt ist der Keilriemen locker (und mittlerweile auch total abgenutzt, was ich zu diesem Zeitpunkt leider noch nicht weiß),
erneut findet sich eine Yacht, die uns abschleppt. Das letzte Mal übrigens. Wir werden zwar nach Berlin noch zweimal Pannen haben und manörvrierunfähig sein, aber die Reise per Anhalter ist in
Schwedt/Oder vorbei.
Wir steigen in den Ersatzbus nach Angermünde, ich habe Zuhause Berlin zweimal Kirchenmusik und ein Gruppen-Treffen, wo ich einen kleinen Workshop geben werde. Alles wichtige Termine, also müssen wir die Reise unterbrechen. Luis und Dion, die beiden Teenager, haben sich in den wohlverdienten Urlaub vom Urlaub verabschiedet. Die Kanal/Fluss-Tour wird wieder in mehreren Etappen mit wechselnder Crew erfolgen.
Mit meinem Kumpel Marcus kehre ich zwei Tage später zurück, wir spannen den Keilriemen wie eine Cello-Saite, dass es eine Freude ist und ein beherztes PLONG ertönt. Was wir zu diesem
Zeitpunkt leider nicht wissen: Der Keilriemen unserer Wasserpumpe ist mittlerweile total durch, fast kein Profil mehr, also kaum Griffigkeit. Deshalb kommt es am übernächsten Reisetag unweigerlich zu einer erneuten Panne.
Logbuch der S/Y Pulpo, 25. Juli 2021 - Tag 16 Schwedt/Oder-Niederfinow
Und wieder geht die Reise weiter, mittags tuckern wir mit dem Dieselmotor Richtung Gartz/Oderberg, tanken unterwegs und erreichen das Schiffshebewerk kurz vor Einbruch der Dunkelheit. Wir fahren nach oben und machen einige hundert Meter weiter an einem Spundwand fest, mit sehr langen Enden. Oben lagern einige Wohnmobile, deren Bestitzer auch etwas irritiert gucken. Aber in der zunehmenden Dämmerung kriegen die von unserem Aktion nicht mehr viel mit.
Letzte Etappe auf der Havel – Oranienburg- Spandau und heim:
Logbuch der S/Y Pulpo, 22. Juli 2021 - Tag 17 Niederfinow-Marina Havelbaude
Tags darauf starten wir ziemlich früh, wir haben nämlich die Hoffnung Abends noch den Heimathafen SVSt zu erreichen. Hoffnung ist wirklich eine sehr gute Einstellung auf dieser Reise. Wir hätten nochmal die Spannung und die Griffigkeiten des Keilriemens überprüfen sollen. Don´t forget about the essentials! Steht sogar im Handbuch des Motors. Handbücher sind eine schöne Sache. Einiges versteht man nicht, aber es gibt viele gute Tipps.
Es ist eine schöne Fahrt an diesem Morgen, durch Nebelfelder, der Morgentau wird benutzt um das Deck zu wischen. Der unvermeidliche erneute Ausfall der Wasserpumpe wird - wieder großes
Glück - rechtzeitig bemerkt. Und, die Spundwand lässt grüßen, diesmal machen wir unter einer Brücke der A11 fest. Die Wassertiefe ist leider ziemlich unzureichend, von Strömungen und
passierenden Booten werden wir mit dem Kiel auf die Steine gedrückt. Bitte lieber Kiel, du musstest viel aushalten auf dieser Reise, hoffentlich ist das nicht zu viel für dich. Die Ostsee durchfahren, auf manche Sandbank aufgelaufen, um Haaresbreite an vielen Hindernissen vorbei, um nun an einer hinfälligen Spundwand unter der A11 zu zerschellen. Nein, der Kiel ist total stabil, hält wirklich viel aus. Die Spundwand hat noch nicht mal richtige Festmacher, nur notdürftig hängen wir mit unseren Seilen an der Stahlkante, kaum durch Fenderbojen geschützt.
Das sind die Momente, an die man sich noch lange erinnert. Währendessen wechselt die Crew den kaputten Keilriemen, der Ersatzriemen war, dem Vorbesitzer sei dank, an Bord.
Und schon geht die Fahrt weiter, wohl unbeschadet überstanden. Zumindest habe ich bei der nächsten Schleusewartesituation mal mit dem großen Zeh am Kiel gekratzt, war Ok. So richtig sicher weiß man das natürlich erst nach dem nächsten Kranen, was ohnehin diesen Herbst ansteht, es muss auch Antifouling neu drauf.
Eine weitere Verzögerung unserer Fahrt: In der Havel bei Oranienburg wurde Munition gefunden und entschärft, 3h Vollsperrung. Das sind die drei Stunden, die uns zum Stößensee gefehlt hätten. Nach einer ausgiebigen, unfreiwilligen Mittagspause fahren wir weiter zur berümt-berüchtigten Schleuse Lehnitz. Dort warten schon einige Motorboote, der Skipperschnack nervt etwas, wir müssen natürlich Stunden warten, einmal zur Schleuse, die voll ist und wieder zurückfahren, nochmal baden, usw. Dann geht es endlich weiter zur Marina Havelbaude.
Ein schöner Spaziergang durch den Wald, bei Spagetti Carbonara und Pizza Fughi auf der italienischen Restaurantterasse lassen wir den Abend und den ganzen Trip schön ausklingen. Was kann (uns) jetzt noch passsieren. Nachts höre ich mit Herzrasen Grapefruit Moon von Tom Waits und fiebere dem ersten Date mit Anna in Berlin entgegen.
Logbuch der S/Y Pulpo, 22. Juli 2021 - Tag 18 Marina Havelbaude (Birkenwerder)-Stößensee
Und wirklich, ohne weitere Zwischenfälle erreichen wir am nächsten Morgen des 28. Julis den Heimathafen. Marcus fährt nach Hause und wir stellen den Mast.
Was für eine Fahrt: Vom 22.6. bis heute zweiundreißig Tage in fremden Häfen und heute endlich Zuhause. Prost!